22. Februar 2023

Offener Brief an Bundesbankpräsident Dr. Joachim Nagel

Sehr geehrter Bundesbankpräsident Dr. Joachim Nagel,

Sie haben durch Ihren Sitz im Rat des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Macht, sich für eine Schuldenstreichung einzusetzen. Diese soll Ländern im Globalen Süden mit besonders hohen Schuldenständen ein Stück Selbstbestimmung zurückgeben und ihnen erlauben, verstärkt in den grünen Wandel zu investieren.

Die Zinszahlungen dieser Staaten an Finanzakteure sind so hoch, dass Regierungen ihre Ausgaben für Gesundheit und Bildung sowie ihre Investitionen in ressourcen- und emissionsarme Infrastruktur reduzieren. Gleichzeitig werden sie gezwungen, fossile Brennstoffe abzubauen, um die Zinszahlungen bedienen zu können. Beispielsweise drängte der IWF Argentinien dazu, europäischen und US-amerikanischen Firmen Fracking in Vaca Muerta zu erlauben – trotz heftigen Widerstands lokaler und indigener Gemeinschaften. Mozambique schlug der IWF Kohle- und Gasförderung zur Lösung seiner Schuldenkrise und zur Finanzierung des Wiederaufbaus nach einem Zyklon vor.1 Mit fatalen Folgen für die Menschen in diesen Ländern und für uns alle. Es startet eine Negativspirale, in der ausbleibende Investitionen, z. B. in resiliente Bewässerungssysteme, wieder zu Zinserhöhungen führen können. Denn schon jetzt müssen Staaten aufgrund ihrer Sensibilität gegenüber Klimafolgen Zinsaufschläge bezahlen.2 Die Negativspirale vertieft sich, da häufig neue Schulden aufgenommen werden, nur, um die bestehende Schuldenlast bedienen zu können. Dies produziert soziale Verwerfungen und betoniert fossile Entwicklungspfade ein. Schulden werden untragbar. Wo das passiert, ist eine Schuldenstreichung notwendig.

Die prekäre Situation dieser Länder ist nicht selbstverschuldet. Die Pandemie z. B. erforderte die kurzfristige Aufnahme von Krediten zum Schutz der Bevölkerung und führte überall zu einem starken Schuldenanstieg. Auch bei klimabedingten Katastrophen müssen betroffene Länder, die selber am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, oft neue Kredite aufnehmen, da die Verursacher des Klimawandels nicht genügend Ressourcen bereitstellen. Doch die Bedingungen für die Kreditaufnahme und -tilgung sind nicht für alle Staaten gleich. Viele Länder des Globalen Südens müssen einen systematisch höheren Zinssatz zahlen und sind zudem stärker von den globalen Folgen der letzten Zinserhöhungen der Federal Reserve und der Europäischen Zentralbank betroffen. Zum Beispiel zahlen die zehn größten lateinamerikanischen Länder durchschnittlich 25.5% mehr Zinsen als Deutschland. Dies liegt an der Position dieser Staaten in der Peripherie des internationalen Finanzsystems, welches das gelebte Erbe kolonialer Ausbeutung ist.3 Eine Schuldenstreichung ist demnach kein Geschenk an diese Staaten, sondern eine späte Korrektur eines globalen historischen Unrechts.

Es gibt genügend Präzedenzfälle für Schuldenstreichungen und sie sind ein anerkanntes Mittel bei Notlagen, wie sie viele Staaten im Globalen Süden gerade erleben. Die letzten Initiativen, wie das G20 Schuldenrahmenwerk “Common Framework for Debt Treatment” sowie die “High Indebted Poor Countries” Initiative (HIPC), sind jedoch unzureichend.4 Viele Länder mit niedrigen und mittlerem Einkommen, die ein hohes Risiko der Überschuldung und kaum fiskalischen Spielraum für notwendige Klimainvestitionen haben, wurden ausgelassen. Darüber hinaus blieben die Schuldenforderungen privater Kreditgeber in vollem Umfang bestehen. Beides mindert den Erfolg der Schuldenstreichungen.

Deshalb fordern wir die Einführung eines breiten Programms, das Schuldenstreichungen durchführt und private Kreditgeber in die Pflicht nimmt.5

Diese Maßnahme für Klimagerechtigkeit kommt auch uns im Globalen Norden zu Gute. Afrika hat 40 % des weltweiten Potenzials für erneuerbare Energien, aber bisher nur 2 % der Investitionen. Die von Schulden befreiten Länder könnten mehr in die dringend notwendige selbstbestimmte sozial-ökologische Transformation investieren. Laut IPCC-Bericht 2022 lebt bereits die Hälfte der Menschheit in existentiell bedrohten Gebieten. Schnelles und entschlossenes Handeln ist daher gefordert.

Wie intelligente Schuldenpolitik funktioniert, lehrt die Geschichte: Am 27.02.2023 jährt sich die Schuldenstreichung für die Bundesrepublik Deutschland zum 70. Mal. Diese hat entscheidend zum Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes beigetragen. Durch das Londoner Schuldenabkommen vom 27.02.1953 wurde die junge Bundesrepublik im Zeitalter der Blockkonfrontation eng in das westliche Verteidigungsbündnis eingebunden. Die Schuldenstreichung durch die Alliierten erfolgte demnach nicht aus Mildtätigkeit, sondern aus klarem strategischem Eigeninteresse.

Das Jubiläum zeigt, dass Schuldenstreichungen möglich sind und zur Lösung globaler Probleme beitragen können.6 Zurzeit rasen wir ungebremst auf die Klimakatastrophe zu, die unsere Gesellschaften radikal verändern wird.

Sie, Herr Nagel, können einen entscheidenden Beitrag leisten, notwendige Veränderungen aktiv und im positiven Sinne mitzugestalten.

Mit freundlichen Grüßen,

das KoalaKollektiv

Unterstützt von:


1 https://www.brettonwoodsproject.org/2020/04/frackings-false-hope-why-fossil-fuels-wont-help-to-repay-argentinas-national-debt/; https://www.eurodad.org/a_tale_of_two_emergencies_the_interplay_of_sovereign_debt_and_climate_crises_in_the_global_south;

2 Siehe Bericht “Climate Change and the Cost of Capital in Developing Countries” von SOAS University of London. https://eprints.soas.ac.uk/26038/1/ClimateCostofCapital_FullReport_Final.pdf

3 Siehe Svartzman & Althouse (2022). Greening the international monetary system? Not without addressing the political ecology of global imbalances. Review of International Political Economy. y, DOI: 10.1080/09692290.2020.1854326

4 Zu Erfahrungen aus der HIPC Initiative, siehe de Bruijn & Rehbein (2011), Biti et al. (2016), Caliari (2020).

5 Ein detaillierter Vorschlag hierzu wird in einem Bericht namens “Debt Relief for a Green and Inclusive Recovery, a proposal” von der Heinrich Böll Stiftung, dem Global Development Policy Center der Boston University, und dem Centre for Sustainable Finance at SOAS University of London beschrieben.

6 Siehe Fresnillo, I. (2022). A tale of two emergencies. The interplay of sovereign debt and climate crisis in the global south. Retrieved from https://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/eurodad/pages/1945/attachments/original/1610462143/debt-and-climate-briefing-final.pdf?1610462143